Was ist Zeit wert, wie bewerten wir sie im Arbeitskontext (müssen wir das?) und wie schaffen wir als Unternehmen ein Umfeld, in dem individuelle Arbeitszeitmodelle zum Erfolg führen? Höchste Zeit, Marita Haas dazu zu befragen. Sie schreibt über Gender Equality, Ungleichheiten in der Arbeitswelt und wie man sie beseitigt, hat über 60 Unternehmen, NGOs und Start-ups in Transformationsphasen beraten und erklärt im folgenden Text, wie Arbeitszeit Lebenszeit strukturiert, was das Teilbarkeitskonzept ist und wie die perfekte Arbeits(-zeit)woche aussieht.
Wenn wir alle uns aussuchen könnten, wie wir Arbeit, Familie, Sport, Ehrenamt, Kinder, eigene Hobbies, den Garten am Land, das vergessene DJ-Board in der Garage, .. auf die verfügbare Zeit verteilen wollen, wie würde dann unsere Woche aussehen? Würden wir immer noch 30, 40, 50 Stunden arbeiten, vom Büro nach Hause hetzen, um den Kindern zumindest Gute Nacht zu sagen, und Freund:innen ausschließlich am Wochenende, am besten gleich beim Sport treffen? Wie konkret würden wir all die unterschiedlichen Lebensbestandteile auf die vorhandene Zeit umlegen?
Arbeitszeit strukturiert Lebenszeit – bis jetzt.
In Workshops mit Organisationen und Teams haben wir die Frage nach der “idealen Arbeitswoche” oft gestellt. Wann sollen Meetings stattfinden, wann konzeptive Arbeit, wann möchte ich überhaupt arbeiten? Viele sitzen vor einem leeren Blatt Papier und müssen erst einmal über eigene Priorisierungen nachdenken. Arbeit strukturiert das Leben so sehr, dass wir oft keine konkreten Ideen haben, wie es anders gehen könnte – nur eben, dass es anders sein sollte. Die häufigste Reflexionsfrage ist: Wo ist eigentlich die Zeit geblieben, um all das zu machen, was Spaß macht, was wir als Berufung sehen, und woran wir geglaubt haben, als wir noch jünger waren?
Nach einer kurzen Anlaufphase habe ich oftmals Wochenpläne gesehen, in denen Arbeit auf sechs oder sogar sieben Tage flexibel verteilt wurde. Es gab Freizeitblöcke während der Arbeitszeit und umgekehrt. Oder auch Tage und Stunden, die speziell reserviert waren – für eigene Interessen, einen Spaziergang, ein Essen mit einem Familienmitglied. Ideale Zeitpläne zeigen sich so individuell wie die jeweiligen Lebenskonzepte und Lebensphasen, aber es stellt sich heraus, dass der Wunsch nach einer besseren Verteilung von Lebensbereichen an Bedeutung gewinnt.
Die Philosophie, dass die Arbeit in das Leben passen muss, klingt fast wie eine Forderung der Gen Z, das ist sie aber nicht ausschließlich. Sie ist ein Grundgedanke zum Umgang mit Zeit und Leistung, der davon abweicht, dass jede Leistung in einer bestimmten Arbeitszeit geliefert wird bzw. geliefert werden muss. Gleichzeitig wird genau das zu einem “pain point” des Managements, denn wohin mit der ganzen Arbeit, die anscheinend keine:r mehr machen will?
Das Teilbarkeits-Konzept als Herausforderung
Die Reduktion von Arbeitszeit war in den letzten Jahrzehnten vor allem mit dem Thema Familienbetreuung verbunden. Ehrenamtliche Tätigkeiten, Reisen oder intensive Hobbies kamen zwar vor, wurden aber meist nicht offiziell mit einem:einer Arbeitgeber:in verhandelt – zu sehr gehörten sie in die “private” Sphäre des Lebens und nicht in die Arbeit selbst.
Für Unternehmen und Organisationen war das eigentlich ganz bequem. Die, die weniger arbeiten “wollten” – vornehmlich weibliche Mitarbeiter:innen denen die Hauptfürsorge für die Familienmitgliedern obliegt – konnten ihre Zeit halbieren und auf Teilzeitbasis tätig sein. Karriere-Einschnitte vorprogrammiert, denn wer nur halb da ist, kann auch nur Halbes leisten, so die gängige Meinung. Teilzeitarbeit birgt allerdings viele “Fallen”. Vor allem weibliche Mitarbeiter:innen kommen aus den Positionen mit reduzierten Stunden kaum mehr heraus und leiden unter prekären Arbeitsverhältnissen oder der Altersarmut, weil am Ende zu wenig finanzielle Mittel da sind, um ausreichend leben zu können. Der Wunsch nach reduzierter Arbeitszeit aufgrund familiärer Verpflichtungen wird heute zunehmend für alle Geschlechter relevant – und damit auch für Unternehmen.
Care Arbeit hat eine eigene “zeitliche Logik”, sagt Teresa Bücker. Damit hat sie Recht: Die Krankheit eines Familienmitglieds, die Krisen, die Sorgen, das alles folgt keinem Plan, vieles passiert unvorhergesehen und passt daher auch nicht in einen konkreten zeitlichen Ablauf. Wir brauchen also einen offeneren, großzügigen Umgang mit Zeit, auch in Unternehmen, nicht die simple Trennung eines “ganzen” Jobs in zwei Hälften.
Das Konzept der “Teilzeitarbeit” baut nämlich darauf auf, dass es so etwas wie eine normierte “Vollzeitarbeit” gibt. Wenn ich vom Konzept der Normarbeitszeit und den aktuell damit verbundenen 40 Stunden 50% abziehe, erscheint es logisch, auch 50% des Gehalts abzuziehen. Ist jetzt Arbeit, die in 20 Stunden erledigt wird, aber tatsächlich nur halbe Arbeit? Der Blick in Unternehmen zeigt tatsächlich: oft wird in kürzerer Zeit mehr geleistet, weil knappe Zeit effizienter genutzt wird. Während sich das Gehalt linear zur Arbeitszeit anpasst, bleibt die Karriere auf der Strecke.
Grundsätzlich stimmt: Jobs sind teilbar – wenn man es klug macht. Eine Position kann von zwei Personen gemeinsam übernommen werden. Job Sharing wird von Unternehmen wie IKEA oder Unilever bereits jahrelang eingesetzt. Top Sharing, also die Teilung von Führungspositionen, ist zwar weit weniger etabliert, aber auch das klappt, wenn die Personen gut ausgewählt und in ihrer Rolle begleitet werden.
Nochmal eins draufgelegt hat das Berliner Start-Up Tandemploy, das über Jahre hinweg nur Teilzeitmitarbeitende beschäftigte – nicht weil es so gefordert war, sondern weil die Grundphilosophie der Organisation darauf aufgebaut war, dass Mitarbeiter:innen mehr als eine Kernkompetenz und Leidenschaft mitbringen. Was das Team in der Produktversion als Kompetenz-Matching-System umgesetzt hat, wurde innerhalb des Unternehmens auch gelebt: Egal ob der:die eine Mitarbeiter:in neben dem Haupt-Job ein Yoga-Studio eröffnete, sich um Familienmitglieder kümmerte, ehrenamtlich engagierte oder für einen Marathon trainierte: die Firma hat das unterstützt, mit beworben und als Teil ihres Zeit-Manifests implementiert.
Dennoch bleibt es in all den Beispielen bei einer prozentualen Reduktion der Zeit im Hinblick auf eine normierte “Vollzeitposition”. Egal ob Teilzeit oder Vollzeit, Stunden werden eingeteilt, zugeordnet, dokumentiert und danach abgerechnet. Aber passt es heute noch zu einer erwachsenen Form der Zusammenarbeit, dass man Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen fragt, wie sie ihre Zeit über die Woche hinweg konkret eingesetzt haben? Ist es überhaupt noch adäquat, Arbeitszeit zu begrenzen und Ergebnisse in Zeiteinheiten zu messen?
Vor allem die Arbeit in der Wissens- oder Kreativbranche erfordert kontinuierliches Lernen und Weiterentwicklung, Freiheit im Denken, “leere Zeit” und Autonomie in der Gestaltung des Tages. Diese Freiheit wird in Unternehmen oft eingeschränkt. Ein Beispiel dazu beschreibt eine Feldstudie im Bereich Wissensarbeit, die sich damit auseinandersetzt, wie oft Mitarbeiter:innen und Führungskräfte in ihrer täglichen Arbeit unterbrochen werden, durch Gespräche, Anrufe, Slack-Nachrichten, E-Mails, … Die Studie wurde 2022 in 25 Unternehmen durchgeführt und zeigt, dass alle vier Minuten eine Unterbrechung der Arbeit erfolgt. Hochgerechnet auf einen Monat sind das ganze fünf Arbeitstage – respektive eine Woche und somit bei Vollzeitkräften ca. ein Viertel der gesamten Arbeitszeit.
Während sich Unternehmen also aktuell dagegen sträuben, Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich zu reduzieren, rauben sie umgekehrt Mitarbeiter:innen – und damit letztendlich dem Unternehmen – Zeit, die diese brauchen würden um gut arbeiten zu können.
Organisationen müssen sich mit dem Wert von Zeit auseinandersetzen.
Am Ende des Tages sind es 24 Stunden, am Ende eines Lebens waren es 4.000 Wochen. Die Zeit wird niemals ausreichen, sagt auch der Autor Oliver Burkeman, also besser damit abfinden, reduzieren und priorisieren.
Wie sieht also die ideale Arbeits- und Lebenswoche tatsächlich aus?
Die ideale Arbeitswoche ist auf individuelle Lebenskonzepte abgestimmt. Sie trägt den Lebensrealitäten der Mitarbeiter:innen Rechnung, indem sie die Arbeit nicht in ein 40-Stunden-Korsett presst, sondern zulässt, dass eine Woche auch einmal anders aussehen kann als die davor.
Die ideale Woche ist selbstbestimmt, weil Unternehmen die Freiheit geben und davon profitieren, dass Mitarbeiter:innen kluge Entscheidungen treffen, anstatt unter Druck Ergebnisse abzuliefern.
"Let my people go surfing“, hat Patagonia Gründer und Vordenker Yvon Choinard schon 2006 in seinem bahnbrechenden Buch geschrieben und damit eine Philosophie begründet, die darauf aufbaut dass für jede:n einzelnen genug Zeit bleibt um zu leben UND den Wunsch zu verfolgen sich in einem Unternehmen sinnvoll einzubringen.
Die Zeit dafür ist reif.
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Marita Haas spricht und schreibt über Gender Equality, Ungleichheiten in der Arbeitswelt und wie man sie beseitigt. Sie glaubt an Fairness, Kollaboration und die Forderungen der Gen-Z und hat in diesem Zusammenhang Strukturen und Prozesse von mehr als 60 Unternehmen, NGOs und Start-ups analysiert und bei deren Transformationen beraten. Wir bei tochter arbeiten mit Marita schon seit Jahren und in verschiedensten Projekten zusammen. In unserem Medium widmet sie sich in ihrer Serie der Frage, wie ein innovatives, faires Unternehmen entsteht.
Weiterführende Links
Choinard, Yvon. (2015). Let My People Go Surfing. Penguin Random House. 2. Ausgabe. patagonia.com
Burkeman, Oliver. (2022). Four Thousand Weeks: Time Management for Mortals. Farrar, Straus and Giroux. oliverburkeman.com
Bücker, Teresa. (2022). Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Ullstein Verlag. teresabuecker.de
Starker, Vera & Next Work Innovation Think Tank et al. (2022). Unterbrechungen und überflüssige Meetings kosten Unternehmen 114 Milliarden Euro pro Jahr. nextworkinnovation.com
Fotocredit @pamelarussmann.at