Eine neue Frage für Marita Haas und auch hier erwartet uns eine überraschende Antwort: Während neuerdings sehr viel über „Bring your whole self to work“ und emotionale Arbeit als Grundlage für Kollaboration gesprochen wird, sagt Marita, dass Tränen am Arbeitsplatz gar nicht gehen. Im Gegenteil – sie sind ein Zeichen dafür, dass in Organisationen etwas grundlegend schief läuft. 
 
Wir sitzen in einem Meeting und diskutieren. Es geht heiß her, unterschiedliche Meinungen werden auf den Tisch gelegt, die Diskussion wird lauter – und plötzlich ist da die eine Person, die sich abwendet, ein Taschentuch aus der Jacke holt und offensichtlich den Tränen nahe ist. 

Nach einer kurzen Schockstarre bei allen Beteiligten beginnt immer ein ähnliches Handlungsmuster: Die einen springen auf, umarmen die betroffene Person, legen ihr die Hand auf die Schulter. Andere wenden sich ab, werden unruhig oder gehen kurz raus. Wieder andere verdrehen die Augen, haben den Eindruck, weinen sei unprofessionell, gehöre nicht in ein Arbeitssetting. Meist spielt sich das alles gleichzeitig und in wenigen Sekunden ab – und am Ende bleibt bei jeder Person die Frage offen: Mache ich das Richtige hier? 

Alle wollen Authentizität – aber wer schafft den nötigen Raum?

Sind Tränen am Arbeitsplatz überhaupt erlaubt bzw. erwünscht? Wohin mit den Gefühlen, die jede:r von uns mit sich trägt und die vor allem in stressigen Situationen sichtbar werden? „Bring your whole self to work“, heißt es aktuell in all den Ratgebern für Organisationen des 21. Jahrhunderts. Gerade heute darf und soll jede:r in Organisationen die eigenen Emotionen einbringen, soll authentisch sein und keine Aspekte der eigenen Persönlichkeit zurückhalten müssen. 
 
Die emotionale Arbeit oder die innere Auseinandersetzung darüber, wer wir wirklich sind, was uns wichtig ist und wie wir zusammenarbeiten wollen, stellt die Grundlage für Kollaboration und somit für den Aufbau und die Weiterentwicklung von Unternehmen dar – so der aktuelle Diskurs. „New Work needs Inner work“, schreiben Joanna Breidenbach und Bettina Rollow in ihrem gleichnamigen Buch und argumentieren, wie relevant die Entwicklung von Selbstreflexion und emotionaler Intelligenz ist, um eine neue, kollaborative Arbeitskultur zu schaffen. Das Anerkennen und Zulassen von Gefühlen schließt auch den Umgang mit Tränen und anderen emotionalen Ausdrucksformen mit ein. Übersetzt heißt dies also: Mensch sein, und nicht nur eine reine Arbeitsmaschine. Der homo oeconomicus – ein Konstrukt der Wirtschaftswissenschaften, bei dem Mitarbeiter:innen als rationale Nutzenmaximierer:innen definiert sind, hat ausgedient. Stattdessen wünschen wir uns ganzheitliche Menschen, mit ihrer gesamten Persönlichkeit in unseren Organisationen.

Hier bin ich Mensch, hier darf ich weinen?

Während vor ein, zwei Jahrzehnten das eigene Privatleben ausschließlich in Form eines Fotos der Familie oder eines Bildschirmhintergrundes, der einen beim Surfen, Wandern oder inmitten der Natur zeigt, als adäquat galt, hat sich das mittlerweile verändert. Heute gehört es zum guten Ton – und oft auch zum unbedingten Beginn eines Meetings – beim Check-in zu fragen, wie es den Kolleg:innen geht, was sie beschäftigt oder auch wie sie sich gerade fühlen. Spannungen im Team werden auf den Tisch gelegt, Lösungen idealerweise gemeinsam und rasch gefunden. Emotionen gelten dabei als erlaubt und erwünscht. Nicht jede:r muss immer glücklich sein und wir alle sollten Wege finden, mit den Emotionen der anderen umzugehen. Das alles vermittelt uns ein ziemlich eindeutiges Bild, dass Tränen am Arbeitsplatz kein Problem darstellen. Oder etwa doch?

Aus meiner Sicht wird hier eine relevante Frage oft vergessen, nämlich: Wie kommt es überhaupt dazu, dass Menschen am Arbeitsplatz weinen?
 
Das letzte Mal, als ich eine Person in der Beratung den Tränen nahe sah, ging es um Überforderung. Die betroffene Führungskraft hatte durch Umstrukturierungen immer mehr Rollen und Verantwortlichkeiten dazu bekommen – so viele, dass sie kurz vor einem Burnout stand. Anstatt alles hinzuschmeißen, nahm sie sich zwei Wochen Urlaub. Das erzählte sie mir, während sie versuchte, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Was sie – und viele andere – als persönliche Schwäche wahrnahm und dementsprechend auch versucht hatte, zurückzuhalten, ist allerdings kein individuelles Problem, sondern ein institutionelles. Es geht hier nicht um den Charakter der Person (“die einen heulen viel, die anderen weniger”) oder um Schwäche (“manche Menschen schaffen es nicht, dem Druck in Organisationen Stand zu halten”), sondern es geht um fehlende Ressourcen und eine fehlerhafte Arbeitsstruktur.

Streng genommen waren das also keine Tränen der Person, sondern Tränen der Organisation. Die Auszeit, die sich die betroffene Führungskraft nahm, sieht auf den ersten Blick aus wie ein individuelles Eingeständnis dafür, den Anforderungen der Organisation nicht standhalten zu können. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch klar, dass es sich um einen strukturellen Fehler handelt: Zu viel Verantwortung wurde in eine einzige Position gepackt, ohne die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Tränen im Büro – ein Spiegel der Organisationskultur

Ein anderes Beispiel zeigt einen Mitarbeiter eines internationalen Unternehmens, der vor kurzem die Diagnose einer Autoimmunerkrankung erhalten hat. Den Vorschlag seiner Führungskraft, vorerst weniger zu arbeiten, hat er ausgeschlagen und wie gewohnt seine Leistungen erbracht. Am Tag eines großen Events bricht er jedoch in Tränen aus, sodass seine Kolleg:innen kurzfristig die für ihn geplante Moderation übernehmen.

Hier könnte man annehmen, dass der Mitarbeiter aufgrund seiner persönlichen Situation schneller den Tränen nahe ist als andere, dass er persönlich überlastet ist, gesundheitlich angeschlagen. Eine solche Argumentation macht es der Organisation aber zu leicht. Auch wenn der Mitarbeiter ausgeschlagen hat, weniger zu arbeiten, hatte er vielleicht Sorge, seine Arbeit an eine:n Kolleg:in übergeben zu müssen, in Zukunft weniger gebraucht zu werden oder sogar seinen Job zu verlieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte eine geringere Arbeitszeit zu finanziellen Einbußen geführt, gerade jetzt wo die Person womöglich eher mehr als weniger finanzielle Mittel benötigt. Eine Arbeitszeitverkürzung wäre also der falsche Schritt; im Gegenteil, sie hat dem Mitarbeiter wohl eher noch zusätzlichen Druck auferlegt und er war gezwungen, seine Performance zu halten oder sogar noch zu erhöhen. Der organisationale Fehler liegt also erneut in der Struktur der Arbeit, die hier vorübergehend mehr Flexibilität erfordert.

Meine Tränen gehören mir. 

Es gibt sie natürlich auch - die “privaten” Tränen. Wenn eine Person gerade einen Verlust erlitten oder einen Schicksalsschlag erlebt hat. Wenn Trennungen, schwierige Zeiten, körperliche oder psychische Einschränkungen es schwierig machen, genau so zu arbeiten wie unter besseren Umständen. Und wenn die Tränen daher einfach einmal fließen, weil sie fließen müssen. 

Trotzdem geht es im Sinne einer verantwortungsvollen Zusammenarbeit darum, als Arbeitgeber:in auch den nötigen Raum für schwierigere oder schlechtere Lebensphasen zu schaffen. Dies bedeutet oftmals Arbeit abzunehmen, aber die Bezahlung beizubehalten. Was auf den ersten Blick für viele Organisationen absurd erscheint, da sie nur “gute und vollständige” Arbeit als langfristigen Beitrag zum Unternehmenserfolg konzipieren, – entspricht genau den Vorstellungen von New Work und Kollaboration: Krisen sind unabdingbare Bestandteile und eventuell sogar Voraussetzungen von emotionaler – und somit organisationaler – Weiterentwicklung (siehe "New Work needs Inner Work" von Joanna Breidenbach und Bettina Rollow). Die Auseinandersetzung mit herausfordernden Lebenssituationen führt zu individuellem Wachstum. Ein unterstützendes Arbeitsumfeld, in dem Mitarbeiter:innen auch in schwierigen Zeiten einen sicheren und wertschätzenden Arbeitsplatz vorfinden, ebnet somit auch den Weg für organisationale Weiterentwicklung. 
 
“Der eine weint schneller und leichter als die andere”, ist zwar ein beliebter Verweis auf persönliche Charakterzüge oder Menschen, die “nahe am Wasser gebaut sind” und gerne ihre Emotionen auf diese Weise ausdrücken. Das Weinen ist jedoch eher selten ein Ausdruck der Persönlichkeit oder des Charakters. Im Gegenteil – in den meisten Fällen steckt hinter den Tränen ein Problem, für das das Unternehmen die Verantwortung trägt: ein Rollenkonflikt beispielsweise. Zu viel oder zu wenig Arbeit. Oder auch zu wenig Wertschätzung. Tränen sind also streng genommen ein Indikator dafür, was gerade schiefläuft. 

Weint also jemand in einem Meeting, stelle ich mir zuallererst die Frage: Wie ist es dazu gekommen? Welche Rahmenbedingungen herrschen in der Organisation vor, dass diese Emotionen nun am Tisch sind?  

Ich bin davon überzeugt: Niemand sollte am Arbeitsplatz weinen müssen.

Es handelt sich immer noch um ein Tauschgeschäft, Arbeit gegen Lohn. Ich schulde nicht meine Emotion, aber der:die Arbeitgeber:in schuldet Fairness und das Recht auf einen guten Arbeitsplatz, an dem ich psychisch und physisch unversehrt bin und gut arbeiten kann – und nicht weinen muss. 

Machen wir es uns also nicht zu leicht, indem wir negative Emotionen als Charakterzug definieren, sondern arbeiten wir daran, gute und faire Organisationen zu schaffen. 
 
Um noch einmal zurück zur Meeting-Situation zu kommen: Was tun, wenn es doch passiert? Wer hat hier die Verantwortung und wie agieren wir am besten?
 
Als Kolleg:innen geht es vor allem um Akzeptanz. Auch wenn einige von uns Tränen als problematisch, unangenehm oder unangebracht empfinden, sind sie nun da und sollten nicht ignoriert werden. Manchen Personen ist es peinlich, anderen bei Emotionen zuzusehen; anderen wiederum ist es unangenehm, Emotionen zu zeigen. Meist weiß niemand so ganz genau, was die betroffene Person jetzt braucht oder sich wünscht. Das gilt es - am besten präventiv und - in einem wertschätzenden Prozess, in dem emotionale Spannungen, der eigene Umgang mit Emotionen sowie Wünsche, an die anderen in einem sicheren Umfeld thematisiert werden dürfen, herauszufinden. Gibt es dafür keine klaren Richtlinien, ist erlaubt, was der betroffenen Person guttut und was wir in diesem Moment geben können. 

Eine neue Perspektive auf Tränen: Sie sollten immer als Zeichen verstanden werden, um organisationale Verbesserungen zu erzielen.

Umgekehrt braucht es vor allem eine empathische Form von Führung. Das Center of Creative Leadership nennt diese Kompetenz auch emotionale Flexiblität: Führungskräfte entwickeln bewusst Kompetenz im Umgang mit Emotionen und Lebenssituationen des Teams, wobei sie offen auf Widerstände und Ängste reagieren und ihrerseits einen vertrauensvollen Raum schaffen, in dem Tränen – wenn sie vorkommen – gut aufgehoben sind. Die Person, die das Team, respektive den Termin leitet, sollte idealerweise auch hier den Lead übernehmen und entscheiden, ob eine Pause sinnvoll ist, ob sie das Teammitglied – je nach bekannter persönlicher Präferenz – ansprechen soll und kann, oder ob es möglich ist, gleich in eine Bearbeitung der dahinterliegenden Rahmenbedingungen zu gehen.

Die Leadership-Perspektive betrachtet somit nicht nur den individuellen Fall, sondern setzt den Fokus auf den Gesamtkontext. Damit wechselt die Perspektive in Richtung Zusammenarbeit und Fragen, die in den Vordergrund rücken, haben strukturelle Anknüpfungspunkte, wie etwa “Was läuft hier schief?”, “Wie sieht die Gestaltung der Arbeitsorganisation aus, wo kommt es zu Überlastungen, Engpässen?” etc.
 
Tränen innerhalb einer Organisation sollten jedenfalls als Zeichen verstanden werden, um organisationale Verbesserungen zu erzielen. Weinen bedeutet in den meisten Fällen: Irgendetwas läuft hier nicht rund. Egal ob Wut, Überforderung, oder Verzweiflung sichtbar werden – diese Emotionen haben mit großer Wahrscheinlichkeit mit den Rahmenbedingungen innerhalb der Organisation zu tun und sollten daher auch auf organisationaler Ebene bearbeitet werden.

Mein Fazit: Tränen sind erlaubt. Erwünscht sind sie aus Organisationsperspektive allerdings nicht – denn sie verweisen auf organisationale Missstände, die schon längst hätten behoben werden sollen.  

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Marita coached Führungskräfte im Zuge eines Executive Sparrings bei organisationalen und emotionalen Herausforderungen in der Führungspraxis. Zusätzlich bietet sie organiationsübergreifende Formate, um den Umgang mit komplexen Themenstellungen kollaborativ zu bearbeiten (“Alle Karten auf den Tisch”).

Vier Punkte für Führungskräfte, um Tränen im Alltag besser zu nutzen:

  • Perspektivenwechsel: Strukturelle Probleme durch Emotionen erkennen: Wenn Tränen in einem Team auftauchen, gemeinsam herausfinden, ob es strukturelle Hindernisse gibt, die das emotionale Unwohlsein verursachen.
  • Förderung einer aktiven Feedback-Kultur: Einladung für fachliches, persönliches und emotionales Feedback. Tränen könnten als Teil dieses Feedbacks gesehen werden, als ein Zeichen für Überlastung oder Indikator für fehlende Unterstützung.
  • Förderung von Emotionen als Teil von Retrospektiven: Arbeit am individuellen und gemeinsamen Wohlbefinden im Zuge monatlicher Retrospektiven: Was beschäftigt uns, wie sieht der emotionale Zustand des Teams aus, was können wir verbessern?
  • Arbeit an der eigenen Haltung: Laufende Reflexion des eigenen Umgangs mit Emotionen, Entwicklung einer empathischen und flexiblen Haltung bei schwierigen emotionalen Situationen 
Marita Haas | 17.12.2024