Sollte ich nur Personen in mein Team rekrutieren, die für unsere Sache brennen? Wie viel Leidenschaft muss ich in meinen neuen Job mitbringen? Marita Haas gibt eine überraschende Antwort auf diese Fragen. Im zweiten Beitrag ihrer Serie über innovative, faire Unternehmen zeigt sie auf, wie wir gängiges Denken in der Gestaltung von Kreativ- und Wissensarbeit hinterfragen und neues Feuer entfachen können.
Muss ich für eine Sache brennen, um wirklich gut darin zu sein?
Meine klare Antwort als Organisationsberaterin ist “nein”. Warum das Brennen ein Mythos ist und nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen führt, ist für Unternehmen aber nicht immer ganz klar. Ihre Antwort ist nämlich häufig “ja”. Mitarbeiter:innen sollen brennen für eine Sache, ihr Herzblut in den Job mitbringen, Verantwortung übernehmen und den Entrepreneurship-Gedanken verfolgen. Ihre Ziele und Wünsche sollten idealerweise mit jenen des Unternehmens übereinstimmen, denn die Arbeitgeber:innen wollen dabei zusehen und davon profitieren, wenn ihre Mitarbeiter:innen diese Ziele mit Engagement verfolgen und erreichen.
“Ich bin total begeistert von meinem Team”, erzählt mir beispielsweise der neue Geschäftsführer eines Technologieunternehmens. Sonntag Nachmittag hat er sich an den PC gesetzt, um mit den Vorbereitungen für die Woche zu beginnen. Leidenschaftlich, denken wir. Und legitim. Vielleicht sogar notwendig, denn die Woche ist voll von Meetings, Calls, Kund:innengesprächen. Außerdem musst und sollst du als Geschäftsführer:in die Freiheit haben zu denken und zu planen, wann du gerne möchtest. Die E-Mails, die er verschickt hat, die Nachrichten, die er via Slack an sein Team übermittelt hat, wurden noch am selben Tag beantwortet – unabhängig davon, dass Wochenende war. Zuerst von einzelnen, später von vielen und das, ja das zeigt uns die Leidenschaft des Teams.
Unternehmen messen Leidenschaft also am sichtbaren Einsatz, und vor allem auch an der Zeit, die Mitarbeiter:innen für den Job aufwenden. Diejenigen, die immer erreichbar sind, die lange nach Betriebs- oder Büroschluss noch E-Mails schicken, anrufen und auch im Urlaub schnell einmal an einem Meeting teilnehmen – das sind die Mitarbeiter:innen, die für eine Sache brennen, die Extra-Meile gehen, Leidenschaft zeigen. Übersetzt heißt das: Arbeiten rund um die Uhr, Anwesenheit, Erreichbarkeit, Ansprechbarkeit und 24/7-Kommunikation auf verschiedenen Kanälen.
Die Erwartungshaltung an Mitarbeiter:innen ist also aktuell sehr hoch. Während früher die klassische Formel Zeit gegen Lohn gegolten hat, stimmt diese vor allem im Bereich der Wissens- und Kreativarbeit nicht länger, es geht um ein “mehr”, um ein “darüber hinaus”. Gerade in diesen Branchen gibt es eine Schnittmenge von Leidenschaft, Einsatz und zielgerichtetem Umsetzen von eigenen Ideen.
Noch härter ist es oft für Mitarbeiter:innen in Start-ups: Geldgeber:innen investieren nur dann in ein Team und eine neue Idee, wenn sie erkennen können, dass es einen Funken gibt, der überspringt. Die (jungen) Gründer:innen müssen die Investor:innen zusätzlich davon überzeugen, dass ihre Idee mehr als nur eine Vision ist und sie dafür mit vollem Einsatz und Leidenschaft brennen.
Und es stimmt – gerade in Start-ups stecken sich leidenschaftliche Gründer:innen in einer frühen Wachstumsphase gegenseitig mit Engagement an und sind bereit, nächtelang durchzuarbeiten, weiter an einer App zu programmieren oder den perfekten Pitch für potenzielle Investor:innen vorzubereiten. Der unmittelbare Gewinn spielt hier nicht immer eine Rolle, sondern der Glaube an die Sache, an den gemeinsamen Unternehmenszweck, steht im Vordergrund.
Die Leidenschaft, die nie aufhört, ist aber ein Mythos, ein langfristig nicht erfüllbarer Anspruch, denn Leben und Lebenssituationen verändern sich.
„Mein bester Mitarbeiter geht“, erzählt mir die Managerin eines Logistikunternehmens, „und weißt du, was er gesagt hat? Er braucht eine Auszeit.” Die Managerin sucht nun wieder neue Personen, Hoffnungsträger:innen und ist frustriert. „Die Leute haben keinen Biss mehr”, sagt sie, „sie brennen nicht für die Sache, wollen nicht die Extrameile gehen – oder eben nur mehr kurz”. Sie sieht das Hinausgehen aus der Arbeit als eine Art aufgeben, fast schon als Loyalitätsbruch des Mitarbeiters gegenüber dem Unternehmen; sieht eben nicht, dass es möglicherweise unterschiedliche Lebensphasen gibt, in denen Engagement, Brennen und Leidenschaft eine Rolle spielen können und sollen.
Menschen mit Care-Verpflichtungen beispielsweise müssen ihre Tage anders strukturieren, können und wollen nicht jederzeit auf ein E-Mail oder eine Nachricht antworten, ihre Familienarbeit unterbrechen, um die Erwerbsarbeit in den Vordergrund zu stellen. Menschen mit physischen oder psychischen Erkrankungen, oder auch neurodivergente Menschen, die mehr Pausen benötigen, um sich zu regenerieren und danach wieder produktiv tätig zu sein, wollen und können nicht ihre gesamte Energie auf nur einen Aspekt, respektive die Erwerbsarbeit setzen. Menschen, die aktiv ihre Religion ausüben oder ehrenamtlich tätig sind, die sich dazu entschlossen haben, spirituellen Tätigkeiten nachzugehen – wie würden diese den Slack-Kanal während einer Meditation oder einer religiösen Feier bedienen?
Die Arbeit als zentraler Bestandteil des Lebens, der perfekte Match zwischen der eigenen Leidenschaft und dem Job, in dem wir genau jene Ideen umsetzen können, das ist somit ein Konzept, das nicht für alle Menschen gleichermaßen möglich und denkbar ist.
Trotzdem gilt: Der Wunsch nach Arbeit, die sich nicht nach Arbeit anfühlt, da sie perfekt zur eigenen Leidenschaft passt, wird auch zunehmend von Arbeitnehmer:innen geäußert. Sie suchen sich Unternehmen aus, die ihren Unternehmenszweck klar artikulieren und entscheiden dann, ob sie diese Werte mittragen und sich damit identifizieren können.
Das unternehmerische Motiv hinter dem Wunsch nach Mitarbeitern, die ‚mit Biss arbeiten', folgt nicht immer dem Bild eines gemeinsamen Schaffens, sondern eher einer nutzenorientierten Denkweise. Wenn Arbeit, die sich für die Einzelnen nicht wie Arbeit anfühlt, maximiert werden kann, sind leidenschaftliche Mitarbeiter:innen die besten, so der vermeintliche Eindruck der Unternehmen.
In der Praxis ist der ‚Zwang zur Leidenschaft' jedoch nicht haltbar. Auch wenn es verlockend ist, nur jene Mitarbeiter:innen auszuwählen, die bereit sind, ‚die Extrameile zu gehen' oder für die Unternehmensziele alles andere in den Hintergrund zu rücken: Der Preis für die organisationale Verfügbarkeit ist oft ein individueller. Zu viele Mitarbeiter:innen in unterschiedlichsten Unternehmen habe ich dabei beobachtet, wie sie mit Leidenschaft an ihre Aufgaben herangegangen sind. Und letztendlich – spätestens nach ein paar Jahren – eine Pause gebraucht haben, einen ‚hard cut'. Zu viel brennen führt also zu Burnout.
Laut einer Studie des BMAW gibt es unter den unselbständig Erwerbstätigen aktuell 10% Burnout-Betroffene. Weitere 17% der Arbeitnehmer:innen sind akut gefährdet. Burnout kommt von dem Brennen davor, von dem Zuviel, von dem ‚Alles-auf-eine-Karte-setzen', von Zeitdruck und dauerhafter Überforderung. Die hohe Identifikation mit einem Job lässt die Grenzen verschwinden – und die meisten Menschen warten viel zu lange, bevor sie die Stopp-Taste drücken. Wenn wir also nur Personen rekrutieren, die für etwas brennen, haben wir am Ende möglicherweise eine ausgebrannte Organisation. Die Organisations- und Wirtschaftspsychologin Vera Starker nennt das Fordern von überdimensionalen Einsatz in Form von Erreichbarkeit, Überstunden, Pausenreduktion ‚Engagement-Verwechslungen', die letztendlich dazu führen, dass Mitarbeiter:innen unproduktiver und unkreativer werden. Womit wir beim Gegenteil von Erfolg angelangt wären.
Was also tun als Unternehmen, als Organisation, um engagierte Leute zu finden und zu halten? Was tun als Arbeitnehmer:in mit dem Anspruch, dass Arbeit und die eigene Leidenschaft zusammenpassen sollen?
Leidenschaft ist das Resultat von Arbeit, die ich mache, weil ich an sie glaube – zu diesem Schluss kommt auch der Unternehmensberater und Coach Simon Sinek. Es ist nicht der Ausgangspunkt, sondern das Ergebnis – jener Punkt, an den wir gelangen, wenn wir gemeinsam Ideen und Werte verfolgen. Die Lösung heißt also Kollaboration. Zusammen an einen Tisch setzen und überlegen: Wie wollen wir unser Team, unsere Organisation so gestalten, dass wir alle ein individuell gutes Leben führen können und dennoch gemeinsam für eine Sache einstehen? Was braucht es, damit wir konsequent unser Unternehmensziel verfolgen und dennoch genug Zeit und Leben für alle Mitarbeiter:innen übrig bleibt?
Unternehmen können und sollten also von ihren Mitarbeiter:innen nicht verlangen, für die Arbeit zu brennen, sondern Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich ein Funke entzünden kann. Wenn das Narrativ des individuell mitgebrachten ‚Brennens' erst einmal über Bord geworfen wurde, kann daraus also etwas ganz Neues entstehen: Die gemeinsame Arbeit an einem Ziel. Kollaboratives, gemeinsames Schaffen führt dann ganz automatisch zu einer gemeinsamen Leidenschaft.
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Mit einer Mischung aus Empathie und Herausforderung ermutigt Marita Haas Menschen und Organisationen dazu, neue Räume für Ideen und Perspektiven zu schaffen. Hierfür stellt sie kritische, ungehörte und vor allem reflexive Fragen. Mit über 20 Jahren Expertise in der Organisationsentwicklung hat sie bereits mehr als 60 Unternehmen geholfen, ihre Strukturen zu hinterfragen und neue, innovative Arbeitsumgebungen zu schaffen. Ihre Mission: Arbeitsplätze zu Orten echter Zusammenarbeit zu machen. Ist das alles? Nein. Wenn sie gerade nicht diskutiert, schreibt oder Dinge hinterfragt, widmet sie sich den Themen Gender, Diversity und Equality. Hier schafft sie seit Jahrzehnten immer wieder neue Dialoge und Denkräume, die inspirieren und bewegen.
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Portrait: @pamelarussmann.at
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