Marcus Opitz
Artikel von Marcus Opitz:
Marcus Opitz
Artikel von Marcus Opitz

Ständig denken wir uns und die Zukunft klein. Strategien, um damit aufzuhören. Marcus Opitz zur Fragestellung, welchen Beitrag Kommunikation leistet.

Gute Frage
Wenn ich vor einem Jahr gefragt wurde, was ich eigentlich arbeite, hatte ich keine gute Antwort darauf. Wir hatten uns bei tochter von Anfang an entschieden, Altbekanntes loszulassen, um Neues zu gestalten und dazu gehörten auch klassische Rollen und Jobtitel. Da wir den Platz nicht mit Phrasen füllen wollten, solange es keine echte Antwort gab, stand an an der Stelle des Jobtitels erstmal: nichts. Ist das eine Sinnkrise? wurde ich häufig gefragt. Eher Ausdruck einer Sehnsucht, dass viel mehr möglich ist.

Reif für die Insel
Ich liebe das Berufsfeld, in dem ich arbeite. Kommunikation ermöglicht uns hochkomplexe Beziehungs-, Gemeinschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. Leider beschäftigen wir im Bereich Kommunikation Arbeitende uns viel zu häufig mit Oberflächlichem oder Kurzlebigem, schränken uns selbst in unserem Handeln und in unserem Selbstbild ein. Die Frage daher: Was dürfen wir eigentlich vom Feld der Kommunikation verlangen? Nicht im Sinne individueller Selbstverwirklichung, sondern kollektiver Verbesserung? Ansätze einer Antwort habe ich ausgerechnet auf einer Insel gefunden.

Was dürfen wir eigentlich von Kommunikation verlangen? Nicht im Sinne individueller Selbstverwirklichung, sondern kollektiver Verbesserung?

Im Roman “Utopia” (1516), dessen voller Titel nicht in diese Infobox passt, gibt Humanist und Autor Thomas Morus ein angebliches Treffen mit einem Fremden wieder, der gerade von der gleichnamigen Insel zurückgekommen sei. Im philosophischen Dialog erörtern sie die progressive Gesellschaft der Utopier. Morus kritisiert durch Kontrastierung die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Europa herrschenden Verhältnisse.

(K)ein guter Ort
Auf der Insel Utopia gibt es einen sechs Stunden-Arbeitstag, freie Wahlen und Wissenschaft sowie ausgedehnte, sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Es bestehen allerdings auch Zwangsarbeit, Patriarchat und ein Verbot von Privateigentum. Wären wir auf Utopia glücklich(er)? Wohl kaum. Sie ist dennoch ein historischer Meilenstein. Autor Thomas Morus brachte vor über 500 Jahren nicht nur progressive Inhalte zu Papier, sondern begründete auch ein neues Genre und schuf dessen Namen: Utopie, ein Nicht-Ort, gleichzeitig aber auch ein guter Ort.

Warum wollen wir uns eigentlich nichts Besseres vorstellen?
Was Morus in seinem Roman beschreibt, wirkt heute weitgehend wenig schockierend. Zur Zeit der Veröffentlichung muss das anders gewesen sein (Morus wird 1535 für seine Ideale hingerichtet). Ich habe mich beim Lesen ständig gefragt: Was wären für die heutige Zeit aufregende Utopien? Denn deren Mangel ist ein Problem unserer Zeit. Damit sich Veränderungen durchsetzen können, braucht es zwei Dinge: einerseits Krisen der alten Weltanschauungen und andererseits große, alternative Erzählungen. Krisen haben wir – nicht nur die monumentalen unserer Zeit, auch zahlreiche in unserem direkten Arbeitsumfeld. Nur: Die Erzählungen zu den Alternativen fehlen. Wir stellen gar nicht erst die Frage, ob es anders, besser ginge.

Warum setzen wir Expert:innen für neue Ideen unsere Fähigkeiten nur in eng begrenzten Flächen ein und nicht dafür, Utopien vorstellbar und wünschenswert zu machen?

Strategie für Utopie
Und damit zu uns Strateg:innen und kreativen Kommunikator:innen. Warum setzen wir Expert:innen für neue Ideen unsere Fähigkeiten nur in eng begrenzten (24-Bogen- oder 1080×1080-Pixel-)Flächen ein? Unsere unendlich kreative Energie sollten wir nicht nur in die letzten Meter des Rennens – die lauteste Kampagne, die preisträchtigste Arbeit – stecken, sondern in alles davor. Während wir virtuelle Welten bauen, können wir auch unsere eigene verbessern. Denn es können doch gerade unsere Analysefähigkeit, Kreativität und Offenheit sein, die Utopien vorstellbar und wünschenswert machen; uns an Orte führen, die nicht und gut sind. Nutzen wir unsere Vorstellungskraft für das bessere Leben.

Utopist:in werden
Wie werden wir Utopist:innen? Dafür gibt es keinen vorgegebenen Weg, aber Ansätze, um alternative Erzählungen aufzuzeigen. Zu unserem Beitrag und unseren Auftraggebenden, zu unserer Wirkung auf unsere Gesellschaft und zu uns selbst. Es muss uns gelingen, eine Routine von Loslassen und Kommenlassen zu installieren. Aufhören mit der ewig gleichen Gepflogenheit, aus rekonstruierter Vergangenheit eine vorhersehbare Zukunft basteln zu wollen. Zulassen, es nicht zu wissen und erst erforschen zu müssen. Anfangen, von wünschenswerter Utopie als Ziel rückwärts ins Realistische zu arbeiten.

Früher hätte ich gesagt: Völlig utopisch. Bei tochter haben wir es zu unserer Utopie gemacht – und plötzlich gehen wir zwei Schritte vor und keinen mehr zurück.

Am Anfang der Selbstversuch
Wir – meine Kolleg:innen bei tochter und ich – wollten das erst mehrere Jahre bei uns ausprobieren, bevor wir es offenlegen und aus der Organisation hinaustragen. Um (uns selbst) zu beweisen, dass dieser Zugang funktioniert. Nach außen hin schnell sichtbar war vor allem, was wir weggelassen haben: Nicht nur banale Jobtitel, auch fast alle Formen von Außenkommunikation, Awardshows, grelle Arbeitspräsentationen. Das hat uns Raum gegeben, Neues kommen zu lassen: Wir haben in Kommunikation, Gesundheit, Gemeinschaft, Kokreation, Entwicklung und Entfaltung Utopisches gefunden.

Besser war es noch nicht
Es ist schwer, loszulassen, wie man jahrelang gearbeitet oder gedacht hat. Die Pfade im Kopf sind ausgetreten. Es ist immer einfacher, nichts zu ändern. Früher hätte ich gesagt: Völlig utopisch, was ich hier schreibe. Wir haben noch vieles nicht erreicht, sind immer noch nicht da – aber darum geht es ja. Unsere Vorstellung von Utopia bleibt ein Nicht-Ort, ist aber jetzt schon ein guter Ort.

 

Marcus Opitz hat mittlerweile auch einen Jobtitel: Strategie, Organisation und Very New Work.
Dieser Text erschien ursprünglich im Dezember 2022 in einer kürzeren Fassung bei Strategie Austria.

Marcus Opitz | 17.7.2023