Warum beschäftigt ein Unternehmen einen Philosophen? Michael Holzer hat uns in der Zusammenarbeit an neue Orte geführt: In den Wald genauso wie in Worträume. Im Interview mit Stefanie Fellinger und Marcus Opitz spricht er über den Arbeitsplatz als Absurditäten-Kabinett, seine Rolle als Hofnarr zum Mieten und warum er in (fast) jede seiner Mails die sechs menschlichen Grundbedürfnisse aufnimmt.

Stefanie Fellinger: Du beschäftigst dich viel damit, den richtigen Raum für Arbeit zu schaffen. Wir haben dich auch für dieses Gespräch darum gebeten. Wo bist du gerade?

Michael Holzer: Ich mache einen Spaziergang auf der Hochramalpe. Angrenzend an meinen Arbeitsplatz lustwandle ich auf zwei Kilometern Waldboden – ein schöner Ort, um so ein Gespräch zu führen.

Stefanie Fellinger: Während du durch den Wald gehst: Wie war denn dein eigener beruflicher Weg bis zum Philosophen?

Michael Holzer: Die Kommunikationsbranche ist auch meine berufliche Heritage. Ich habe mit 13 neben der Schule begonnen als Journalist bei einer Regionalzeitung zu arbeiten. Und sofort angefangen, Befremdlichkeiten zu sammeln. Für mich war in und um Medien vieles schon als ganz Junger ein Absurditäten-Kabinett. Ich war zwar Teil davon, gleichzeitig habe ich schon früh eine Beobachterposition installiert, um systemische Zusammenhänge zu verstehen. Und im Prinzip ist das heute noch meine Methodik: der Wechsel zwischen Drohnenperspektive und Einfühlen in Menschen, Organisationen, Kulturen. Immer mit dem Ziel, ein Praktiker des Wandel zu sein und nicht an den Abstraktionen hängenzubleiben.

Ich war zwar Teil des Absurditäten-Kabinetts, gleichzeitig habe ich schon früh eine Beobachterposition installiert. So bin ich ohne Vorsatz zum Hausphilosophen geworden – ein “Hofnarr zum Mieten”, wie mich ein großer Unternehmer einmal nannte.

Stefanie Fellinger: Was macht denn eigentlich eine philosophische Zusammenarbeit im täglichen Tun für dich aus?

Michael Holzer: Philosoph im Ursprünglichen bedeutet ja nur Freund oder Freundin der Weisheit. Diesen Anspruch an uns selbst haben wir natürlich alle. Deshalb halte ich es für legitim, den Begriff auch ganz losgelöst von 6.000 Jahren Philosophiegeschichte zu verwenden, als Sammel-Synonym für die Beschäftigung mit den immateriellen Angelegenheiten in Organisationen. Systemischer Coach, systemischer Berater sind zwar die gängigen Begriffe und mein Ausbildungshintergrund, aber sie sind etwas inflationär und gehen mir deshalb schwer über die Lippen. “Hofnarr zum Mieten” trifft es für mich am Besten. Das hat einmal ein Unternehmer über mich gesagt. Das ist am kongruentesten mit meinem Wesen und verzichtet auf belehrende Anmaßung. Ob ich jemandem etwas Nützliches zu sagen gehabt haben werde, stellt sich ja immer erst dann heraus, wenn sich ein positiver Effekt einstellt. Ich arbeite nicht mit der Attitüde eines Wissenden, ich bin immer ein Fragender. Ich teile Wahrnehmungen. Idealerweise führen Fragen zu Antworten, die es vorher noch nicht gab. Eitelkeit à la "Ich weiß es besser" sind die tückischeste Fallgrube für Berater, aber leider häufig in der Industrie der guten Ratschläge.

Marcus Opitz: Was ist denn das Beste, das aus der Zusammenarbeit von jemandem wie dir als Philosoph – oder als Hofnarr zum Mieten – und einer Unternehmung entstehen kann?

Michael Holzer: Darauf kann ich schnell antworten, denn darüber habe ich schon viel nachgedacht (lacht). Das Beste, das entstehen kann, ist ein neuer Pixel Arbeitswelt, auf dem Arbeitsplätze in Potenzialentwicklungsplätze umformatiert werden. Mit dem Ideal, dass der Mensch, der so einen Platz hat, gar keine andere Idee hat, wo er im Leben besser aufgehoben sein könnte oder lieber sein möchte. Ist das zu abstrakt, oder seid ihr da dabei?

Das Beste, das entstehen kann, ist ein neuer Pixel Arbeitswelt, auf dem Arbeitsplätze in Potenzialentwicklungsplätze umformatiert werden.

Marcus Opitz: Wir sind natürlich dabei, aber du hast eingangs gesagt, “nicht an Abstraktionen hängenbleiben”. Wie würdest du es denn weniger abstrakt ausdrücken?

Michael Holzer (lacht): Ich mach es an einer Geschichte fest. Am 5. Juli 1985 sitzt eine Unternehmer-Familie mit ihren vier Kindern in Kopfing im Innviertel in Oberösterreich bei einem Dorffest. Plötzlich am Horizont: Rauchsäulen. Dort, wo die Unternehmerfamilie ihre Produktionshallen hatte. Schock. Panik. Blaulichter. Die Familie rennt querfeldein mit stechenden Lungen in Richtung dieser Rauchsäulen. Das Lebenswerk, damals 50 Millionen Schilling von 0 aufgebaut, steht schon im Vollbrand. Der 16-jährige Sohn rettet noch ein paar Auftragsbücher aus dem Inferno – dann brennt die Existenz vor den Augen dieser Familie nieder.

Montag in der Früh, nur 48 Stunden nach der Katastrophe. Um Punkt 7:30 steht die versammelte Belegschaft, damals hundert Mitarbeiter, viele haben ihren Urlaub abgebrochen, auf der verbrannten Erde ihrer Arbeitsplätze. Als der Eigentümer völlig verzweifelt und gebrochen vor sie tritt, sagen sie: "Chef, wie pack’ ma’s an?”

Dann passieren wundersame Dinge: Sie finden im Rekordtempo ein Ausweichquartier, wo sie produzieren können. Und innerhalb weniger Monate entsteht ein neues Werk, mit größeren Maschinen und so weiter. Natürlich war alles auch versichert, die Existenz nicht komplett weg. Aber dass hundert Leute in der Früh dort stehen und sagen: “Wir bauen das jetzt wieder auf.” beschreibt weniger abstrakt, was ich meine. Nach so einer Wir-Vision sollten wir alle in unserem Arbeitsleben streben.

Wenn ich das in einem Vortrag oder anderem Forum erzähle, ist natürlich meine nächste Frage: “Wo wärt ihr am Montag in der Früh?” … und dann herrscht oft betretenes Schweigen (lacht). Dann offenbart sich, dass in 40 Jahren seit dieser wahren Begebenheit etwas Wertvolles verlorengegangen ist: dieses Gefühl von Zusammengehörigkeit, das weder Hierarchie noch Standesdünkel kennt.

Meine Mission ist, mit Menschen, Teams und Organisationen diese Quelle wieder aufzuspüren. Jenseits all der Schlagwort-Wolken für Organisationskultur, wo jede Woche eine neue übers Land zieht. Sechs menschliche Grundbedürfnisse verbinden uns und wenn wir anfangen, Kollektive an ihnen auszurichten, beginnt etwas Neues: Sicherheit, Abwechslung, Wertschätzung, Verbundenheit, Lernen und Entwicklung und als höchste Quelle der Sinnstiftung, Beiträge für andere zu leisten. Der Rest ist Moderation. Für diese Heuristik werbe ich als Hofnarr.

Meine Mission ist, mit Menschen, Teams und Organisationen die Quelle der Wir-Vision wieder aufzuspüren. Jenseits all der Schlagwort-Wolken für Organisationskultur, wo jede Woche eine neue übers Land zieht.

Marcus Opitz: Warum ist es in den allermeisten Firmen nicht so, wie du es gerade beschreibst?

Michael Holzer: Weil die Schiefheit der Welt, die wir uns nebst allen Fortschritts erschaffen haben, in die Firmen fraktal hineinreflektiert. Wir kommen mit unseren Paradigmen, also der Art, wie wir auf die Welt schauen, ja überall an Grenzen. Das stiftet zunächst Verwirrung und zwingt uns, elementare Fragen neu zu stellen: Was bedeutet für mich Mensch sein? Was bedeutet Arbeit für mich? Etwas, das ich "halt muss" oder etwas, womit mich mein Leben belohnt? Wir irrlichtern durch die Nebel aus alten Stereotypen und neuen Verheißungen – zwischen neoliberalen Verirrungen und New Work-Romantizismus. Das ist uns aber vielfach gar nicht bewusst. Und so lange dieses Bewusstsein fehlt, wird es so laufen, wie es läuft: Wir produzieren trotz bester Absicht ständig Ergebnisse, die gar niemand will. Also: Nein, die Arbeitswelt ist aktuell vielfach (noch) nicht das, wo Menschen gerne sind.

Nach und nach kommen die Unternehmen darauf, dass sie sich entscheiden müssen: Veränderung, Heilung, Genesung, Neuausrichtung, Regnose, meinen wir das ernst? Oder wollen wir nur ein bisschen Good-Washing betreiben?

Die Ursachen dafür sind multifaktoriell. Und die einzige Möglichkeit, sie wirklich zu beseitigen, ist, mehr Bewusstsein für das zu schaffen, was an Arbeitsplätzen systemisch wirkt. Uralte Introjekte des Klassenkampfs ebenso wie Alt-Versionen des Betriebssystems von Leadership und Hierarchie, dem oft "Arbeitnehmer-Trotz" gegenübersteht. Die gute Nachricht ist: All das ist umkehrbar! Vorausgesetzt, es ist Verantwortlichen mit Veränderung, Heilung, Neuausrichtung wirklich ernst. Aktuell ist vieles noch der Versuch, mit Good-Washing durchzukommen, also nur so zu tun, als ob es tatsächlich um tiefgreifende Paradigmenwechsel ginge.

Marcus Opitz: Was wäre ein Startpunkt für Unternehmen, die es ernst meinen?

Michael Holzer: Richtig geht man es an, wenn dieser dinkelmehlhaftige Satz “Der Mensch ist im Mittelpunkt” nicht einfach nur ein Satz ist, sondern wirklich zum zentralen Paradigma wird. Dann kommt man drauf, dass es in unserer Kultur alle möglichen Unterrichtsgegenstände gibt, bloß das Mensch sein nicht so wirklich. Eine Kollegin von mir plagt sich seit Jahren ab, das Unterrichtsfach Glück im österreichischen Bildungsbetrieb zu implementieren (lacht). Sie scheitert natürlich kläglich. Von diesen Beispielen gibt es viele. Die gibt es sogar bei den Sustainable Development Goals. Wir haben valide Ziele formuliert, wie wir den Planeten und die Menschheit retten können. Bis jemand draufgekommen ist, und ich sag das jetzt flapsig: "Aber Leute: Wenn wir emotional und mental und sozial so beieinand sind, dass wir diese Ziele brauchen, wie wollen wir sie dann erreichen?" Eine berechtigte Frage, nicht wahr? Daraus sind dann die Inner Development Goals entstanden – gewissermaßen ein Framework, wie wir überhaupt das entsprechende Mindset entwickeln können, um die Welt zum Besseren zu verändern. Auch hier sieht man: Die Sustainable Goals bilden den UN Compact, die Inner Development Goals sind eine Privatinitiative, die auf Spenden angewiesen ist. Daran sieht man: Wir sind schon eine ziemlich beratungsresistente Spezies …

Stefanie Fellinger: Was ist in unseren Arbeitsbeziehungen notwendig, damit wir Menschen wirklich im Mittelpunkt stehen?

Michael Holzer: Uns, in Zeiten von AI noch mehr, unsere exklusiv menschlichen Kapazitäten mehr bewusst machen. Den Begriff Arbeit neu definieren und ihn von der schädlichen Work-Life-Denke befreien. Gelingt das, ist der nächste Schritt, das Top-Down-Prinzip durch co-kreativere Praktiken zu ersetzen – und Führungsverantwortung auf viele Schultern zu verteilen, um die Machterhaltungsdynamiken endlich zu durchbrechen. Die, die in der alten Denke "oben" sind, müssen loslassen. Die, die in ihrer Selbstwahrnehmung unter sind, die müssen zupacken. Wo hat der Mensch Zeit für die eigene Kreativität – so wie ich gerade im Wald – und wo ist es aber wichtig, mit Methoden und Werkzeugen zusammenzuwirken? Auf dieser Achse bewegen wir uns ständig. Je elastischer wir dabei werden, desto besser für jede und jeden, desto besser fürs Ganze und desto besser auch für die gesamte Ökologie rundherum.

Normalerweise gibt es keinen offenen Raum – da wird sofort mit dem Caterpillar der Festlegung über alles drüber gewalzt. Mit der hier gelebten Offenheit und Freude an Entwicklung beweist sich das Team selbst, was in ihm stecken kann.

Stefanie Fellinger: Was war denn dein erster Blick auf tochter?

Michael Holzer: Alleine die Geschichte, warum tochter so heißt, lässt mein Herz schon springen. Ich war so schockverliebt in diesen Firmennamen, weil das Wort ein Synonym für die Hoffnung in Bezug auf morgen ist. Das ist schließlich alles, was uns im Hier und Jetzt zur Verfügung steht. Auch das Weglassen klassischer Muster war wohltuend und hoffnunggebend. “Wir haben keine Website. Keine Jobtitel. Wir machen einfach mal.” Da ist noch gar nichts passiert, aber ich habe innerlich schon jubiliert. Denn normalerweise passiert es genau umgekehrt. Es wird sofort mit dem Caterpillar der Festlegung über alles drüber gewalzt.

Marcus Opitz: Statt mit dem Caterpillar der Festlegung zu fahren, hast du mit uns das Gegenteil gemacht und uns einen Tag auf einem Trail durch den Wald geführt – über viele Stunden, Schritte, Stolperer. Was hast du bei uns beobachtet?

Michael Holzer: Der Trail und das, was dort stattfindet, ist wie ein MRT für die Teamkultur. Keine der erlernten Strategien funktioniert, weil die Übungen niemand kennt. Neuland! Und auf ihm zeigt sich die wahre Kapazität – das Team beweist sich selbst, wozu es in Ausnahmesituationen imstande ist. Jedes Mal – bei euch im Speziellen – liegen die Kapazitäten weiß außerhalb dessen, was alle in der Theorie für möglich gehalten hätten. Und das entfacht das Feuer für Entwicklung …

Marcus Opitz: Du hast nicht nur bei uns schon viel gesehen. Was macht insgesamt moderne, gut funktionierende Unternehmenskultur aus?

Michael Holzer: Je besser die sechs menschlichen Grundbedürfnisse erfüllt sind – ich glaube, ich schreibe sie auch in jede Mail hinein, aus Gründen der Redundanz (lacht) – je offener die Kommunikation, desto besser funktioniert Unternehmenskultur. Im förderlichen Sinne ist sie ein Raum, in dem Menschen zusammenkommen, miteinander Dinge erschaffen und in diesem Tun ihren tieferen Sinn finden. Wo es zwischen den Stakeholdern einen ungeschriebenen Freundschaftsvertrag auf Augenhöhe gibt. Das verstehe ich unter eine Arbeitswelt, von der mein Herz weiß, dass sie möglich ist.

Michael Holzer ist Begleiter und Berater von Unternehmen und Institutionen, Coach von Persönlichkeiten mit exponierten Rollen und Facilitator für Teamentwicklung und -kohärenz. Er begleitet tochter von (bzw. vor) Anfang an. Und sonst? Die Berge, die Jagd, der Sport, das Meer und die Philosophie (siehe Bildergalerie oben).

Header-Bild; Bildergalerie © Michael Holzer

tochter | 8.6.2023