Wir haben den Mann zum Interview gebeten, der selbst von sich sagt: “Design und der Arbeitsplatz sind nicht wirklich meine Agenda. Mein Blick richtet sich vielschichtig auf die Zukunft der Wissensarbeit.” Das wiederum ist genau unser Thema und so haben wir im Gespräch mit Raphael Gielgen versucht, verschiedenste Dimensionen zu beleuchten, von denen der Raum eben nur eine ist. Warum wir da wie Vitra ticken? Wie das Schweizer Unternehmen haben auch wir uns der Verbesserung der Qualität von Büros und öffentlichen Räumen durch das Medium des Designs verschrieben. Seit 1988 beschäftigt sich Vitra in unternehmensinternen Publikationen und den öffentlichen Sessions mit Bürokultur und der Zukunft der Arbeit. Die Erkenntnis: Womit wir uns umgeben, sagt nicht nur einiges über uns selbst, sondern auch über den Zeitgeist aus. Diesen Aspekt hat nicht zuletzt die Pandemie uns allen wohl mehr als deutlich vor Augen geführt.

Wie wichtig ist in deinen Augen die Gestaltung unserer Arbeitsplätze?
Raphael:
Die Umgebung, in der wir uns aufhalten, nimmt Einfluss auf uns Menschen: sie unterstützt, inspiriert, motiviert. Ich würde sagen, jeder Mensch hat ein Grundmaß an räumlicher Qualität verdient. In unserem heutigen Arbeitsalltag treffen jedoch eine physische und eine virtuelle Welt aufeinander, wobei beide um unsere ungeteilte Aufmerksamkeit buhlen. Da für uns Menschen stets nur eine From der Anwesenheit möglich ist, haben wir nun die Wahl, real oder virtuell zusammenzukommen. Die physische Welt tritt mehr und mehr in Konkurrenz mit der virtuellen Version – lausige Arbeitsumgebungen sind daher keine Option.

Inwieweit spielt bei der Wissensarbeit als problemlösender Tätigkeit im Vergleich zur Routinearbeit der physische Arbeitsplatz auch in Zukunft noch eine tragende Rolle – oder anders gefragt: welchen Stellenwert wird der physische Raum in Zukunft einnehmen?
Raphael: Das ist eine schwierige Frage, ich würde allerdings sagen, die Relevanz der Gestaltung unserer physischen Räume wird gerade im Bereich der Wissensarbeit weiter an Wichtigkeit gewinnen: kreative Arbeit erfordert letztlich Regeneration und Inspiration. Die Frage ist aber auch, wie der Raum für eine produktive Wissensarbeit beschaffen sein muss. So wie sich im “Leben des Brian” die Frage stellte, was uns die Römer gebracht haben, sollten wir uns heute fragen: Warum noch ins Büro fahren? Da spielen Rituale im Sinne von Intimität und Vertrauen, aber auch Innovation und Fortschritt eine entscheidende Rolle. All das ist vom eigenen Nest aus kaum möglich. So wie ich es sehe, befindet sich ein Großteil der Unternehmen in einem Prozess der Transformation und dieser muss für das Team auch in seiner äußeren Gestalt erlebbar sein.

Die physische Welt tritt mehr und mehr in Konkurrenz mit der virtuellen Version – lausige Arbeitsumgebungen sind daher keine Option.

WISSENSARBEIT – Unter Wissensarbeit versteht man komplexe Problemlösungen und die Bewältigung von Aufgaben, nicht durch Erfahrung oder bereits Erlerntes, sondern im Zuge der Aneignung neuen Wissens. Die permanente Evaluierung und Überprüfung im eigenen Tun ist dabei entscheidend für die Produktivität und Qualität der Wissensarbeit.

Welche Aspekte sprechen für die flexible, ortsungebundene Arbeit und welche für den klassischen Büroarbeitsplatz?
Raphael: Da möchte ich entgegnen, ob man die Frage überhaupt so stellen kann? Manche Tätigkeiten sind grundsätzlich remote möglich, müssen aber deswegen nicht so stattfinden. Ich denke da konkret an das Generieren von Ideen, das Onboarding neuer Mitarbeiter:innen oder Personalgespräche – alles generell virtuell machbar, aber will man das? Auf der anderen Seite verleiht die remote Arbeitsweise dem oder der Einzelnen ein neues Maß an Souveränität, Verantwortung sowie einen größeren Radius an Aktionismus. Dabei darf die soziale Komponente halt nicht vernachlässigt werden – generell ist die Beantwortung der Frage – wie so oft – eben abhängig von den jeweiligen Umständen.

Bilder von ©Vitra-Räumen rund um die Welt: On Running Headquater ©Vitra Foto: Eduardo Perez; Studio Hürlemann Dancing Office ©Vitra Foto: Dejan Jovanovic; On Running Headquater ©Vitra Foto: Eduardo Perez; Vitra London Tramshed ©Vitra Foto: Eduardo Perez; Vitra Club Office ©Vitra Foto: Dejan Jovanovic; RCA Battersea ©Vitra Foto: Eduardo Perez

Kreative Arbeit erfordert Regeneration und Inspiration, Intimität und Vertrauen, Innovation und Fortschritt – all das ist vom eigenen Nest aus kaum möglich.

Kann uns unser Umfeld bei der (kreativen) Arbeit beflügeln? Welche Rolle spielt also unsere designte Umwelt für unsere Produktivität oder ist es in deinen Augen salopp gesagt ganz egal, auf welchem Stuhl wir sitzen?
Raphael: Ähnlich wie dem Handwerker die Werkstatt, dient uns der Raum als Werkzeug. Wer Highend liefern möchte, braucht das entsprechende Equipment und Surrounding. Wir Menschen haben uns inherent eine Sehnsucht nach Verortung, die wiederum unterliegt einem gewissen Code, muss also auf unsere menschlichen Bedürfnisse reagieren. Schönheit oder die gute Gestaltung einer räumlichen Umgebung wirken immer auf uns Menschen, egal ob es sich dabei um das Büro oder den urbanen Raum handelt. Im Unterbewusstsein spielt das also sicher eine entscheidende Rolle. Gerade in diesem Zusammenhang hat uns die Pandemie deutlich vor Augen geführt, wie outdated das Büro als Ort heute oftmals ist. Daheim hingegen haben wir uns gemütlich eingerichtet – Wohlfühloase 24/7. Das hat zu einem Hinterfragen von Gegebenheiten und einem Umdenken im tieferen Sinne geführt. Selten zuvor hat sich der Mensch so intensiv mit der ihn umgebenden Umwelt auseinandergesetzt. Dabei stellt sich im Sinne des Schwarz-Weiß-Denkens heute nach der Pandemie immer auch die Frage: Will ich das Erlebnis oder die Bequemlichkeit, bestelle ich schnell eine Pizza oder gönne ich mir ein Menü im Sterne-Restaurant? Es stellt sich heute quasi permanent die Frage nach dem Warum, wenn es darum geht, die eigenen vier Wände  zu verlassen. Im besten Falle motiviert uns dann der Ort, an den wir uns begeben können und der unsere Kreativität, Leistungsbereitschaft und Energie zu steigern vermag.

Wie dem Handwerker die Werkstatt, dient uns der Raum als Werkzeug. Wer Highend liefern möchte, braucht das entsprechende Equipment und Surrounding.

Wie sieht dein perfekt gestalteter Arbeitsplatz (der Zukunft) aus?
Raphael: Den einen Arbeitsplatz gibt es in meinen Augen nicht, vielmehr vier oder fünf ganz unterschiedliche, das kann auch ein Café sein, die Flughafen-Lounge oder das eigene Zuhause. Ich persönlich bin aber immer gerne im Büro, weil es für mich die Ausnahme und nicht die Regel ist – ich bin meiner Zeit sozusagen voraus und arbeite schon seit 15 Jahren remote. Gerade in der Pandemie ist aber auch mir bewusst geworden, dass so ein Büro, vor allem im Vitra Club Office in Birsfelden, vollgepackt mit Menschen, wo etwas passiert, ein wahnsinnig inspirierender Ort ist und dass es regelrecht schmerzt, wenn ein (gut gestalteter) Ort einfach verlassen bleibt …

Raphael Gielgen ist Trendscout Future of Work Life & Learn bei Vitra in Basel.

Linda Pezzei ist Fachjournalistin für Architektur und Design und Diplom Ingenieurin der Architektur.
Wo sie aktuell Head Of Interior bei Meissl Architects ist.

Portrait: Raphael Gielgen © Tom Ziora | Linda Pezzei © Patrick Saringer

 
 
Linda Pezzei | 2.4.2023